Über das Leben von Dr. Rudolf Steiner
In Donji Kraljevec (dt. Nieder Kraliewitz) – damals Österreich-Ungarn – wurde am 27. Februar 1861 Rudolf Steiner geboren, ein Mann, der bereits zu Lebzeiten als einer der größten Geisteswissenschaftler der Neuzeit anerkannt wurde.
Sein Name war in der Zeit von 1893 bis 1925 in so vielen Bereichen der menschlichen Tätigkeit aufzufinden, dass ruhig behauptet werden kann, Steiner habe wohl mit die tiefsten Spuren auf dem Weg der Ganzheitlichkeit des Menschen hinterlassen.
Um allerdings einen Nutzen aus seinen Bemühungen ziehen zu können, müssen kommende Generationen diesen Spuren folgen wollen und können. Die chaotischen und unglücklichen Ereignisse des gesamten 20. Jahrhunderts waren von einer solchen Fülle an Verlockungen des schieren Materialismus geprägt, dass viele Menschen die leuchtende Bedeutung dieser glänzenden Spuren nicht mehr ausmachen konnten, und dieser somit für viele in Vergessenheit geriet. Der Zustand heute – erst knappe hundert Jahre danach – zeigt, dass der Name Rudolf Steiner in vielen Büchern ausgelassen wird, und zwar in Büchern mit der Prätention, Personen aufzuzählen, die einen großen Beitrag zum Allgemeinwohl der Gesellschaft in unterschiedlichen Bereichen der menschlichen Tätigkeit geleistet haben.
Das Bewusstsein der Menschheit im letzten Jahrhundert erwies sich als noch nicht ausreichend ausgereift, um aus der gesamten Tiefe von Rudolf Steiners spirituellen Einsichten schöpfen zu können. Die Fülle und Bedeutung seiner spirituellen Erkenntnisse, hat einen Wert, der in seiner Wahrhaftigkeit überleben und mit seinem Schaffen – ähnlich wie bei Aristoteles‘ Werk – erst bevorstehende Zeiten beleuchten wird.
Zwecks Ausschluss etwaiger fehlerhafter oder gar böswilliger Interpretationen der Quintessenz dessen, worauf Steiner stets die Aufmerksamkeit des Menschen lenkte, ist anzumerken, dass er dem Menschen den Zugang zu einer grundlegend neuen Denkweise bot.
Um ein klares Bild erhalten zu können, ist darauf hinzuweisen, dass sich die innere, mentale Struktur des Menschen ab dem 15. Jahrhundert erheblich verändert hat. Die Rolle des Trägers dieser Veränderung hat im tiefsten Kern die menschliche Meinung übernommen. Auf diese Weise wurde die Fähigkeit einer analytischen Schlussfolgerung, wie wir sie heute kennen und gar nicht mehr infrage stellen, schnell zu einer herkömmlichen menschlichen Fähigkeit. Das anschaulichste Beispiel für diese Veränderung in den Tiefen der menschlichen Seele war die erstaunliche Geschwindigkeit, mit der der Mensch das neue Konzept einer runden und die Sonne umkreisenden Erde annahm. Die stetige Entwicklung dieses Denkvermögens richtete sich zunehmend auf die Eindrücke der durch menschliche Wahrnehmungssinne (Sehen, Hören, Tasten…) fassbaren Außenwelt, und hat sich in der gleichen Weise bis heute fortgesetzt. Gleichzeitig hat dies jedoch die menschliche Erkenntnisfähigkeit dazu geführt, Fragen aus dem Bereich der Seele und des Geistes nicht beantworten zu können. Das derart neu gebildete analytische Denkvermögen hat mit der Zeit zugestanden, solche für den Menschen entscheidende Fragen nicht klar auffassen zu können. Die Auseinandersetzung mit diesem Bereich des menschlichen Wesens wird daher als nicht objektiv eingestuft. Und so überließ das derart entwickelte menschliche Denkvermögen sämtliche Fragen bezüglich menschliche Seele und Geist komplett der Religion, und widmete sich stattdessen konzentriert und einseitig dem immer engeren sensorischen (materiellen) Bereich seines Gebiets. Somit kam das menschliche Bewusstsein über die eigene Denkfähigkeit und die damit eng verbundene Erkenntniskraft schließlich zu einer völligen Verleugnung der geistigen Realität. Dies wiederum führte zu einer allgemeinen Durchsetzung der materiellen Weltanschauung.
Rudolf Steiner nahm diesen unfreien Zustand des menschlichen Denkens wahr und wies darauf hin, dass es aller Vorurteile entzogen und der Prozess der Gedankenschaffung selber von der Abhängigkeit der Außenweltwahrnehmung befreit werden sollte. Lebendiges Denken – wie Steiner es nannte; ein sinnlichkeitsfreies Denken; es hat keinen Ursprung in der greifbaren Welt und ist ein rein geistiger Prozess. Selbst der pure Beginn eines solchen Denkens ermöglicht einen Einlass der menschlichen Erkenntnis in das Reich der menschlichen Seele und des menschlichen Geistes. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass der Mensch seit jeher die Präsenz der geistigen Welt und seinen Platz darin als gegeben erachtet hat. Und nun wird dem Menschen mit einem solchen Bezug zum eigenen Denken und der Anwendung unter klarem Bewusstsein des persönlichen Willens die Möglichkeit geboten, die spirituelle Realität als Frucht der eigenen Erkenntnis auszuleben.
Anders ausgedrückt, Rudolf Steiners wies durch sein eigenes Beispiel auf die Möglichkeit hin, dass der Mensch zusätzlich zu dem üblichen, im Alltag auf Sinneswahrnehmung beruhenden Denken, ein neue Denkweise erlernen kann, deren Inhalt er selbst kreiert Diese Übung besteht aus einer freiwilligen und wiederholten Lenkung der eigenen Aufmerksamkeit auf einen einfachen Gedanken, zum Beispiel: „Wärme ist Existenz“. Mit der Anstrengung, die wir dafür aufbringen müssen, wird der Geist immer stärker, genauso wie bestimmte Muskel unter Einsatz stärker werden. Am Ende sehen wir, dass Denken genau wie Muskelkraft ein Anspannen, ein Tasten, eine inneres Erlebnis ist. Wenn der Mensch nun einige Zeit lang derart vorgeht, bemerkt er, dass sich in seinem Inneren ein Gefühl für die Existenz von etwas Neuem weckt, etwas, was er bisher nie bemerkte. Dieses Neue kann der Mensch mit Recht nach und nach als einen völlig neuen Sinn wahrnehmen, ähnlich wie Sehen oder Hören. Die Verwendung dieses Sinnes – dieser erwachten Fähigkeit, dieses wiederbelebten Denkens – ermöglicht dem Menschen, sich in vollem, reinem Bewusstsein der direkten Einsicht in die spirituelle Realität seiner selbst zu nähern. Dann kommt er – nicht durch übliche Gehirnleistung, sondern vielmehr dank dem tiefen inneren Gefühl eines ganzheitlichen und klaren Bewusstseins, anders als das alltägliche – zu einer wie jede andere grundlegende naturwissenschaftliche Erkenntnis unbestreitbaren Erkenntnis, dass die Existenz des Menschen nicht durch Geburt und Tod bestimmt wird. Ein solcher Erkenntnisweg macht den Menschen nicht zu einem Träumer, zu einer Person ohne gesunden Verstand, sondern ganz im Gegenteil; Je tiefer und bewusster er sich mit der spirituellen Essenz seiner selbst und dann der ganzen Welt befasst, desto entschlossener wird ein Mensch, verantwortungsbewusst und wahrheitsgemäß zu handeln und ein Leben voller Liebe und Mitgefühl für die ganze Welt zu führen.
Die Bestätigung der Richtigkeit dieser Ansicht findet sich in zahlreichen Zeugnissen von Steiners Arbeit, insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg. Zu diesem Zeitpunkt erlangte die Anthroposophie oder anthroposophische Geisteswissenschaft – wie er diese neu etablierte, von ihm während der vorherigen 30 Jahre konsequent aufgebauten Forschungswissenschaft der geistigen Realität nannte – eine unvermeidbare Präsenz in allen Bereichen der menschlichen Tätigkeit. Sie hat neue Ansichten in verschiedenen Bereichen des menschlichen Engagements inspiriert. Rudolf Steiner erläuterte und beschrieb eine derartige spirituelle Weltanschauung genauer und betonte deren Bedeutung für die weitere Entwicklung der Menschheit. Hierdurch legte er den Grundstein für die Entwicklung zahlreicher Neuheiten, heute weltweit bekannt als biodynamischen Landwirtschaft, Waldorfpädagogik, Eurythmie, Anthroposophischen Medizin, Architektur, Malerei, die Kunst des Sprechens…
Die Aktualität und Bedeutung von Rudolf Steiners Werk ergab sich, wie er selbst sagte, aus den brennenden Bedürfnissen der menschlichen Seele, die so leicht nach den Ereignissen der frühen 1920er Jahre ausmachbar sind. Im Februar 1922 nahm er das Angebot einer bekannten deutschen Konzertagentur an, im Januar und Februar deutschlandweit öffentliche Vorträge zu organisieren. In den ersten zwei Wochen dieser Tour sprach er vor zwanzigtausend Menschen. Das Interesse an Rudolf Steiner und seine Anthroposophie nahm allmählich zu. Allerdings stieg im gleichen Maße auch die Zahl seiner Gegner. Die zweite Tour im Mai desselben Jahres setzte Steiner – in München und dann in Elberfeld – lebensbedrohlichen Situationen aus. Die Unruhestifter bei diesen Vorträgen, die sich schließlich für den Nationalsozialismus einsetzten, sahen in ihm, in seinen kosmopolitischen sozialen Ideen und in seiner auf Freiheit basierenden inneren Einstellung ihren entschlossenen Gegner. Die Tour wurde abgebrochen, aber Steiner setzte seine Vorträge in Europa weiter fort. In der Tat war noch nie in der Neuzeit eine solche Kraft anzutreffen, wie es bei seinen Vorträgen der Fall war. Nur angesichts dieses Umstands alleine, kann die angespannte Vorfreude nachempfunden werden, die die circa 2.000 Teilnehmer täglich vor seinen Vorträgen auf dem zehntägigen Ost-West-Kongress im Juni 1922 in Wien erlebten. Oder aber die Achtsamkeit ausmachen, mit der Wissenschaftler, Soziologen, Psychologen, Ärzte, Philosophen, Künstler, Politiker und viele andere denkende Menschen weltweit, oft mit anderen oder sogar entgegengesetzten Ansichten, seinen Worten folgten. Er sprach über die Ganzheitlichkeit des Menschen, über die Position des Menschen in der Welt, über die Probleme der Menschheit in der Nachkriegszeit und deren Lösungen …
Im selben Jahr wurde er aufgrund seiner Anregungen zur Setzung neuer Impulse für ein angemesseneres Bildungssystem zum Kongress über „Spirituelle Werte in Bildung und sozialem Leben“ nach Oxford eingeladen. Der Kongress fand unter der Schirmherrschaft des englischen Bildungsministers statt, und der „Schwerpunkt des gesamten Kongresses ist die Person Rudolf Steiner und sein Vortrag, der das Publikum besonders beeindruckte“, wie The Manchester Guardian im August 1922 berichtete. Dort hielt er neun Vorträge vor dem akademischen Publikum eines Landes, mit dem Deutschland bis vor kurzem Krieg geführt hatte…
Wer war nun dieser Mann?